Das kuratorische Projekt PostColonialPostFreakPostCardShow präsentiert künstlerische Arbeiten von Ixmucané Aguilar, Enric Fort Ballester, Musquiqui Chihying und Gregor Kasper, Scarlett Hooft Graafland sowie Fabrice Monteiro. Kuratiert wird das Format der Postkartenausstellung im öffentlichen Raum in Hannover und Koblenz von der Kuratorin Julia Katharina Thiemann.

 

Die fotografische Praxis von Ixmucané Aguilar (*1983) verbindet Portraitreihen mit Gesprächen. Ihre Fotodokumentationen über den deutschen Kolonialismus und insbesondere die Völkermorde an Mitgliedern der (Hirten-)Völker Herero und Nama (1904-1908) erarbeitete sie mit noch lebenden Nachkommen in Namibia sowie anhand von Archivmaterialen. Sie reiste durch weite Teile Namibias, um mit verschiedensten Menschen über ihre aktuelle Situation und Überlieferungen der Geschehnisse zu sprechen, die ihre Lebensrealität oftmals noch immer stark prägen.

 

So macht sie heutige Spuren des Völkermords anhand der Trauerrituale einzelner Nachfahren eindrücklich sichtbar und hält das koloniale Unrecht der Genozide mit seinen fortwirkenden Folgen wach. Die Fotografie zeigt Gräber in den Dünen von Swakopmund, die eine Gedenkstätte für den Genozid an den Hereros darstellen. Herero-Frauen treffen sich hier regelmäßig und wandern gemeinsam schweigend durch die Wüste, um ihrer Vorfahren zu gedenken. Ixmucané Aguilars Fotografien und Videos, die über die QR-Codes angesehen werden können, zeigen Rituale der kollektiven Trauer über das geschehende Unrecht.

 

Enric Fort Ballester (*1987 in Valencia, Spanien) kreiert in seinen multimedialen Arbeiten Situationen, die zwischenmenschliches Verhalten und soziale Zuschreibungen ausloten. So initiierte er beispielsweise eine Performance als Demonstration mit gläsernen Protestschildern. Er fragt nach der politischen Wirkmacht dessen, was in Kunst und Alltag dargestellt wird. Wie können soziale Machtverhältnisse visualisiert werden und sind Gegenerzählungen möglich?

 

Musquiqui Chihying (*1985 in Taipeh, Taiwan) und Gregor Kasper (*1986 in Hoyerswerda) arbeiten momentan an einem filmischen Langzeitprojekt zu Misa­höhe, einer ehemaligen Station deutscher Kolonialherren Anfang des 20. Jahrhunderts im Togo, deren gewaltvolle Geschichte sie ästhetisch erlebbar machen. Die alten Stationsgebäude in Misahoe möchte Edem Akuété in ein Kulturforum transformieren, das unter anderem ein Archiv und ein Museum zur kolonialen Geschichte enthalten soll. Die beiden Künstler ­Musquiqui Chihying und Gregor Kasper verbinden in ihren Arbeiten Fotografien mit fiktiven Postkartengrüßen aus Togo, um zu Reflektionen der Geschichte und Gegenwart anzuregen.

 

Die niederländische Künstlerin Scarlett Hooft Graafland (*1973) inszeniert ortsspezifische Interventionen und Performances an den entlegensten Orten der Welt. Dabei arbeitet sie mit Menschen aus isolierten Gemeinschaften dieser Regionen zusammen. Ihre spielerischen Interaktionen reflektieren und kritisieren sowohl klischeehafte Menschenbilder als auch das Verhältnis von Natur und Kultur.

 

So stellt zum Beispiel ihre Fotografie „Resolution, Malekula“, die sie im Jahr 2015 in Vanuatu inszenierte, einen elfjährigen Jungen dar, der auf dem Strand der Insel Malekula ein gelbes Modellschiff der „HMS Resolution“ in Händen hält. Vor zweieinhalb Jahrhunderten lag das Schiff von Kapitän Cook in diesen Gewässern vor Anker und brachte große Veränderungen für die Bevölkerung. Ihre Fotografie „Burka Balloons“ aus Socotra im Jemen zeigt Frauen der örtlichen Bevölkerung in Burkas mit weißen Ballons in der Hand. Im Jemen ist es Frauen verboten, ihren Körper oder ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen.

 

Fabrice Monteiro (*1979 in Belgien, lebt in Dakar, Senegal) thematisiert in seiner Serie „8 Mile Wall“ (2017) die pseudowissenschaftliche Darstellung des „Schwarzen Mannes“ im 19. Jahrhundert in scheinbarer „Unterlegenheit“ und zeigt die Folgen dieses Unrechts und deren Nachwirkungen bis heute. Dabei spielt Monteiro mit überspitzten Vorurteilen, Symbolen und Klischees, nicht nur in Bezug auf „Mister Banania“, einer 1914 gegründeten französischen Kolonialmarke mit rassistischer Werbung, die er neben weiteren Darstellungen von Afrikaner*innen in seinen Inszenierungen überspitzt und so deren Stereotypisierungen kritisiert.

 

Die internationalen Künstler*innen setzten sich in ihrem bisherigen Werk unter anderem mit Fragen der Sichtbarkeit marginalisierter oder aufgrund von Gender, Klassenzugehörigkeit oder Ethnizität benachteiligter Individuen und Gesellschaftsgruppen auf ästhetisch sinnliche Weise auseinander. Sie verhandeln Fragen von Identität, sozialer und soziopolitischer Zuschreibungen, sowie von Selbst- und Fremdbildern. Humorvoll und kritisch hinterfragen sie Aspekte der Repräsentation in Kunst und Alltag insbesondere im westlichen Blick auf nicht-westliche Lebensentwürfe, Identitätskonzepte und postkoloniale Realitäten. Die künstlerischen Arbeiten in Postkartenform kommentieren Kolonialverhalten und dessen Auswirkungen bis heute auf genuin ästhetische Weise.

 

Ausstellungsorte stellen dabei einerseits Kioske und öffentliche Räume in Hannover dar, die Touristen und Passanten tagtäglich in großer Zahl erleben, und weiterhin das sogenannten „Deutsche Eck“ in Koblenz, ein als „urdeutsch“ stilisierter Ort und touristisches Ziel, wo der allegorische „Vater Rhein“ auf „Mutter Mosel“ trifft und ein großes Monument von 1897 den ersten deutschen Eroberer Wilhelm I. auf seinem Pferd zeigt.

 

In dem alltäglichen Objekt der Postkarte beispielsweise mit Portraits und Kurzfilmen von Ixmucané Aguilar mit trauernden Nachfahren der Überlebenden der Genozide an Herero und Nama in Namibia oder inszenierten Portraits mit übersteigerten, kolonial geprägten Stereotypen „des Schwarzen Mannes“ von Fabrice Monteiro, die alte französische Werbebilder für Kolonialgüter, Klischees und visuelle Bildsprachen der rassistischen Herabsetzung karikieren und kritisieren, spiegeln sich gerade in unserer heutigen gesellschaftlichen und politischen Situation eine Bandbreite von Fragen und Problemstellungen, denen die hier versammelten Künstler*innen mit viel Hintersinn, Wissen und Humor, aber auch Kritik ästhetisch begegnen und somit in subtiler Intervention zur Reflektion anregen.

 

Die Figur des Anderen

 

Fragen nach Subjektkonstitutionen und Identitätskonzepten sind bei zeitgenössischen Künstler*innen oftmals mit einer abstrahierten Figuration verbunden. Zahlreiche Autor*innen wissenschaftlicher postkolonialer Theorien ebenso wie Künstler*innen und Literat*innen versuchen auf ihre je eigene Weise, angemessene neue Konzepte von Identität, Subjektivität, Repräsentation und Alterität für die komplexen, historisch gewachsenen Zusammenhänge zu finden. Der indischen Wissenschaftlerin Gayatri Spivak folgend, will dieses Projekt nicht einfach nur marginalisierten Identitätskonzepten „eine Stimme geben“, sondern die Konstruktion des scheinbar Eigenen gegenüber dem abgegrenzten Anderen differenziert betrachten – auf ästhetischer Ebene mit all’ ihren Freiheiten und vielleicht auch Frechheiten.

 

Die Postkarte als Medium ist dabei an sich bereits geschichtsträchtig durch Thematiken der Selbst- und Fremddarstellung besetzt – wenn auch oftmals ungewollt und unreflektiert. Wie bereits der Titel dieses unkonventionellen Ausstellungsprojektes PostColonialPostFreakPostCardShow humoristisch andeutet, vereinten und vereinen sich in Postkarten oftmals Logiken des Blicks auf die oder das Fremde als Exotik des scheinbar Außergewöhnlichen. Dabei kann, aber muss das Fremde nicht geographisch entfernt sein, wie nicht zuletzt die Figur des sogenannten „Freak“ deutlich macht. Vielmehr sind es innere Grenzziehungen, die psychische Prozesse der Subjektbildung und Identitätsstabilisierung aufgrund von Parametern und Zuordnungen des scheinbar „Fremden“ und des angenommenen „Eigenen“ ausbilden.

 

Send me a Postcard!

 

Nachdem 1869 die allererste kleine Karte aus brauner Pappe in Österreich verschickt wurde, unterschrieb Otto von Bismarck vor 150 Jahren eine Verordnung zur Kommunikationsrationalisierung, die die sogenannte „Correspondenzkarte“ als günstigere und kürzere Form der Kommunikation einführte, was jedoch aufgrund des Briefgeheimnisses vorerst auf große Bedenken stieß.[1] Dabei wiesen die frühen Correspondenzkarten noch keine Abbildung auf, sondern waren auf einer Seite mit persönlichen Botschaften beschreibbar, während die andere Seite für die Adressierung und das Postwertzeichen vorbehalten war. Ende des 19. Jahrhunderts erweiterte sich das Angebot und die Aufmachung der Correspondenzkarten durch Fortschritte in der Drucktechnik, sodass bald auch Ansichtskarten mit Fotografien, Drucken und/oder farbiger Schrift aufkamen. Seit der Verwendung von Bildern wanderte der Raum für persönliche Mitteilungen auf die linke Hälfte der Rückseite, während die rechte Hälfte für die Anschrift des Empfängers reserviert blieb – so wie wir es auch heute noch kennen. Regelrechte Moden besonders beliebter Sujets lassen sich über die Zeit anhand von Ansichtskarten ausmachen, während das Angebot der Bildmotive zugleich mit definierte, was sehenswert sei – wodurch sie auch als kulturhistorische Dokumente gelesen werden können.

 

Postkarten waren und sind bebilderte Grußformen als Zeichen aus der fremden Ferne oder des Stolzes auf naheliegende Kulturgüter und Landschaften. Sie signalisieren eine Verbundenheit auch über Entfernungen hinweg. Bildkarten geben seit Jahrhunderten Einblick in fremde Länder, Bauwerke, Kulturstätten sowie Gesellschaften und verbreiten dabei Wissen, Stereotype, Kurioses und Außergewöhnliches. Sie machen Reiseerlebnisse sichtbar und folgen dabei ihren eigenen Gesetzen der Darstellung, die auch Moden und Denkweisen unterliegen. So sind Postkarten stets im Zusammenhang mit einer Politik der Sichtbarkeit sowie Blickregimen zu sehen, die der Gesellschaft der Zeit jeweils entspricht – oder zumindest so tut als ob und dabei auch Vorurteile perpetuiert.

 

In Zeiten unzähliger digitaler Short-Messenger-Dienste scheint die gedruckte und postalisch versandte Postkarte heutzutage nahezu anachronistisch. Doch ist auch die handgeschriebene Ansichtskarte noch immer aktuell – in pandemiebedingten Zeiten der physischen Distanz mehr denn je, scheint es. Und nicht zuletzt lässt die Postkarte auch noch immer fremde (Sehnsuchts-)Orte aufscheinen – heutzutage in neuer Perspektive, wie beispielsweise die Motive von Scarlett Graaf Hooftland eindrücklich demonstrieren.

 

Selbst- und Fremdbilder

 

Die hier ausgewählten künstlerischen Motive der Postkarten tauchen an unterschiedlichen Orten auf, wie beispielsweise in Hannover mit seinem bekannten innerstädtischen Maschsee als Naherholungsgebiet, der als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme entstand und letztlich auch die Bismarcksäule, an der Bücherverbrennungen und paramilitärische Aufmärsche Anfang des letzten Jahrhunderts in nationalsozialistisch-geprägter Zeit stattfanden, in sich ertränkte. Unter anderem an Orten wie diesem kann die Geschichte der Postkartenansicht als visuelles Instrument der Sichtbarkeit bewusst auf antikolonialer, feministischer und kritischer Ebene weitergeführt und dadurch auch die reflektierte Wahrnehmung der uns permanent umgebenden visuellen Codes gestärkt werden. Nicht zufällig verweisen Musquiqui Chihying und Gregor Kasper hier mit ihren Postkarten auf einen ganz anderen, kolonial geprägten Ort. Ihre Ansichten zeigen die Misahöhe, eine ehemalige deutsche Kolonialstation im Togo, wo die beiden Künstler ein Langzeitfilmprojekt verfolgen, das die Erinnerung und das Wissen über die Kolonialzeit ästhetisch aufarbeitet.

 

Ebenso verbreitet wie Ansichtskarten illustrer Orte waren auch Autogrammkarten bekannter Persönlichkeiten, sowie Ansichten von Attraktivitäten, >Freaks< und sogenannter >Abnormitäten<. Das darunter verborgene Menschenbild ist ausstellendend und abwertend in hierarchisch funktionierendem Machtgefälle, dessen Logik hier auf unterschiedliche Weise künstlerisch unterlaufen wird – gerade in Form einer Ausstellung, die wiederum in sich „ausstellend“ ist. In der Vergangenheit wurde das Fremde häufig als Kuriosum dargestellt und in seiner Fremdartigkeit zumeist auch betont. Insbesondere Bildkarten sogenannter >Völkerschauen< zeigen dies eindrücklich, die eher die Phantasie des Photographen und Auftraggebers spiegelten als (Lebens-)Realitäten abbildeten. Diesem Abschnitt unserer Bildgeschichte setzt das Kunstprojekt PostColonialPostFreakPostCardShow eine eigene Logik und Bildsprache entgegen. Das Ausstellungsprojekt speist inmitten von Hannover und Koblenz künstlerische Postkarten in die Gesellschaft ein, um zu irritieren sowie zur Reflektion inmitten der alltäglichen (Geschichts-)Konsumption anzuregen.

 

Nicht zuletzt griff und greift die Tourismusindustrie so manche koloniale Argumentation und Repräsentationsweise auf und reaktualisiert Stereotype teilweise bis heute. Fragen der Identitätssuche und –bildung sind daher auch in heutigen Zeiten vordergründiger Interkulturalität mit verdeckten Klassenstrukturen oder gar Rassismus – wie gerade auch im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung wieder deutlich wurde – noch immer oder auch gerade wieder vermehrt relevant. Etablierte Denkmuster sollten stets in Frage gestellt werden – gerade und insbesondere in Alltagssituationen.

 

Portrait und Identität

 

Fragen der Re-Präsentation, die im Feld der bildenden Kunst und speziell in Diskursen der Fotografie bereits eine traditionsreiche Rolle spielen, geraten gerade in Bezug auf postkoloniale Verhandlungen dezidiert in den Blick. Die Ideale kohärenter Selbstverhältnisse und gruppenspezifischer Identitätsstrukturen gerieten in führenden Theorien des Poststrukturalismus und der Psychoanalyse ganz grundsätzlich in die Kritik. Erkenntnisse, dass Identitäten und Subjektwahrnehmungen stets konstruiert sind, setzen sich seit den 1960er Jahren immer stärker durch und sensibilisieren für Aspekte des Postkolonialen.

 

Die indische Literaturwissenschaftlerin und Mitbegründerin postkolonialer Theorien Gayatri Chakravorty Spivak (*1942 in Kalkutta) untersucht die Selbstinterpretation nicht-westlicher Subjektkonstitutionen in ihrem Konzept der Praktiken von Subalternen. So betont Spivak die Heterogenität und Überlagerung variierender Differenzen, beispielsweise von >race<, >class< und >gender<, die in je eigenen Anteilen individuelle Formierungen von Identitäten prägen und daher auch stets in ihrer vollständigen Komplexität in den Blick genommen werden müssen. Während diskriminatorische Praktiken durch Zuschreibungen funktionieren, gibt es Versuche, diese auch in Gegenakten anzueignen und somit subversiv zu nutzen. Identitätseffekte werden gerade in übertriebenen oder sinnentleerten Zuschreibungen auf die Spitze getrieben, wie beispielsweise Fabrice Monteiro mit seinen Arbeiten eindrücklich zeigt.

 

Mögliche Handlungsspielräume und Kontererzählungen der Selbstdarstellung minorisierter, subalterner Individuen, die aus postkolonialen Zusammenhängen stammen, stehen im Fokus des Interesses der hier versammelten Künstler*innen ohne sie hierauf reduzieren zu wollen. Vielmehr werden Sichtbarkeitsregime in ästhetischen Freiräumen offengelegt. Genau in diesem diffizilen Zwischenbereich sind die künstlerischen Strategien dieser Postkarten angelegt.

 

Hybridität

 

Der indische Theoretiker Homi K. Bhabha (*1949 in Mumbai) spricht potentiellen Strategien der Hybridität und Mimikry eine besondere Kraft aufgrund eines „[…] Prozeß[es] der iterativen >Auftrennung< und der aufrührerischen Neuzusammensetzung inkommensurabler Elemente“[2] zu, durch die individuelle Autoritäten gestärkt werden. Durch eine Form der Unangepasstheit und Zurückweisung narrativer Zuschreibungen entsteht ein Moment der Unberechenbarkeit.

 

Dabei ist und war das Fremde nie alleinig mit Angst oder nur mit einer Funktion der Stabilisierung des Eigenen verknüpft, sondern auch mit Faszination. Wahrnehmungen der Bedrohung oder Abgrenzung gehen stets untrennbar einher mit Aspekten der Faszination des >Exotischen<. Die Repräsentation des Anderen ist daher immer auch polysem und affektiv aufgeladen. So beobachtete Bhabha in Rückgriff auf Derrida Kippfiguren, in denen psychologische, negative Restphänomene ins Positive umschlagen. Der/die >Andere< ist stets widersprüchlich besetzt. Diese Widersprüchlickkeit und Vieldeutigkeit prägt ausdrucksstarke Kunst seit jeher.

 

Identitätsbildung ist stets ein sozial vermittelter Prozess. Dabei geraten auch die fortwirkenden Folgen der Repräsentation, Stereotypisierung des scheinbar Anderen als Fremden zur Stabilisierung des scheinbar Eigenen auch über machtpolitische koloniale Situationen hinaus in den Blick. Zugleich erleben wir in unserer globalisierten Welt eine zunehmende Vermischung kultureller Praktiken auf allen Ebenen. Daher proklamiert Homi K. Bhabha eine internationale Kultur in seinem Konzept des >Dritten Raumes<, die „nicht auf der Exotik […] der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht“.[3] Aus der Hybridität entstehen nach Bhabha Möglichkeiten der Subversion und Handlungsfähigkeit. Die Kategorie des Hybriden lenkt den Fokus vom Anderen auf Prozesse einer permanenten Vermischung verschiedener Einflüsse und Konzepte zu etwas Neuem, Hybriden. Hybridität beschreibt das Kombinatorische kultureller Praktiken, die stets ihrerseits hybride Identitäten hervorbringen, wie wir alle sie heute in variierenden Anteilen vorstellen. So bieten die hier versammelten Künstler*innen ganz unterschiedliche visuelle Bildwelten, Narrationen und offenen Enden zur eigenen Erkundung und Assoziation an, die hintergründig, kritisch und humorvoll konzipiert sind.

 

Nicht zuletzt sind die Postkarten dazu gedacht, sie mit einem Gruß versehen tatsächlich zu verschicken und damit wieder neue Verknüpfungen evtl. in alle Welt, in die nahe Ferne oder fremde Nähe, herzustellen. Gerade in Zeiten der physischen Distanz während der Pandemie können künstlerische Arbeiten auf Postkarten nicht nur Zeichen der Zuneigung, sondern vielmehr Angebote der Horizonterweiterung und Reflektion über postkolonial geprägte Verhältnisse und die Weise unseres Zusammenlebens und Umgangs miteinander darstellen.

 

Dieses Projekt konnte nur umgesetzt werden durch die vertrauensvolle Unterstützung des Kultursommers Rheinland-Pfalz und des Kulturbüros der Landeshauptstadt Hannover. Namentlich danke ich Nike Poulakos und Anne Prenzler mit ihren jeweiligen Teams für die Förderung. Ohne die Bereitschaft der beteiligten Künstler*innen wäre die PostColonialPostFreakPostCardShow nicht möglich gewesen – herzlichen Dank an Ixmucané Aguilar, Enric Fort Ballester, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper, Scarlett Hooft Graafland und Fabrice Monteiro für die Zusammenarbeit! Für die Gestaltung der Drucksachen und Webseite danke ich Sebastian Moock.

 

Julia Katharina Thiemann

The curatorial project PostColonialPostFreakPostCardShow presents artistic works by Ixmucané Aguilar, Enric Fort Ballester, Musquiqui Chihying and Gregor Kasper, Scarlett Hooft Graafland as well as Fabrice Monteiro. The format of the postcard exhibition in public space in Hannover and Koblenz is curated by Julia Katharina Thiemann.

 

The photographic practice of Ixmucané Aguilar (*1983) combines portrait series with conversations. Her photographic documentaries on German colonialism and in particular the genocides of members of the Herero and Nama (1904-1908) were produced with descendants still living in Namibia and on the basis of archive material. She traveled through large parts of Namibia to talk to a wide variety of people about their current situation and the genocide that still strongly influence their lives.

 

In this way, she makes today’s aftermaths of the genocide visible through the mourning rituals of individual descendants in a collective and keeps alive the colonial injustice of the genocides with its ongoing consequences. The photograph shows graves in the dunes of Swakopmund, which are a memorial to the Hereros. For that Herero women meet here regularly and wander silently together through the desert to remember their ancestors. Ixmucané Aguilar’s photographs and videos, which can be viewed via the QR codes, show rituals of collective mourning for the injustice that occurred.

 

In his multimedia works, Enric Fort Ballester (*1987 in Valencia, Spain) creates situations that explore interpersonal behavior and social attributions. For example, he initiated a performance as a demonstration with protest signs made out of fragile glass. He asks about the political impact of what is represented in art and everyday life. How can social power relations be visualized and are counter-narratives possible?

 

Musquiqui Chihying (*1985 in Taipei, Taiwan) and Gregor Kasper (*1986 in East Berlin) are currently working on a long-term film project on the Misahöhe, a former station of German colonial masters in Togo at the beginning of the 20th century, whose violent history they are making aesthetically tangible. At present, the old station buildings in Misahoe are being converted into a memorial center under the leadership of Edem Akuété, in order to keep the colonial history alive in pictures and stories. In their works, the two artists Musquiqui Chihying and Gregor Kasper combine photographs with fictitious postcard greetings from Togo to stimulate reflection on the past and present.

 

The Dutch artist Scarlett Hooft Graafland (*1973) stages site-specific interventions and performances in the most remote places in the world. She works together with people from isolated communities in these regions. Her playful interactions reflect and criticize both clichéd images of people and the relationship between nature and culture.

 

For example, her photograph „Resolution, Malekula“, which she staged in Vanuatu in 2015, depicts an eleven-year-old boy holding a yellow model ship of „HMS Resolution“ in his hands on the beach of the island of Malekula. Two and a half centuries ago, Captain Cook’s ship was anchored in these waters, bringing far-reaching changes for the population. Her photograph „Burka Balloons“, shot in Socotra in Yemen, shows women of the local population in burkas with white balloons in their hands. In Yemen, women are forbidden to show their body or face in public.

 

In his series „8 Mile Wall“ (2017), Fabrice Monteiro (*1979 in Belgium, lives in Dakar, Senegal) addresses the pseudo-scientific depiction of the black man as a „bogeyman“ in the 19th century in apparent „inferiority“ and shows the consequences of this injustice and its aftermath to this day. Monteiro plays with exaggerated prejudices, symbols and clichés, not only in relation to „Mister Banania“, a French colonial brand founded in 1914 with racist advertising, which he exaggerates in his productions along with other depictions of Africans and thus criticizes their stereotyping.

 

In their work to date, the international artists have, among other things, dealt with questions of the visibility of marginalized individuals and social groups or those disadvantaged by gender, class or ethnicity in an aesthetically sensual way. They negotiate questions of identity, social and socio-political attributions, and images of self and others. In a humorous and critical way, they question aspects of representation in art and everyday life, especially in the Western view of non-Western life concepts, identity concepts and postcolonial realities. The artistic works in postcard form comment on colonial behavior and its effects to this day in a genuinely aesthetic way.

 

The exhibition sites are on the one hand kiosks and public spaces in Hanover, which tourists and passers-by experience in large numbers on a daily basis, and on the other hand the so-called „German Corner“ in Koblenz, a place and tourist destination stylized as „original German“, where the allegorical „Father Rhine“ meets „Mother Moselle“ and a large monument from 1897 shows the first German conqueror Wilhelm I on his horse.

 

In the everyday object of the postcard, for example with portraits and short films by Ixmucané Aguilar with mourning descendants of the survivors of the genocides of Herero and Nama in Namibia, or staged portraits with exaggerated, colonial stereotypes of „the black man“ by Fabrice Monteiro. He caricatures and though critizes old French advertising images for colonial goods, and the clichés and visual imagery of racist degradation in general to reflect our current social and political situation. A wide range of questions and problems the artists aesthetically address with a great deal of subtlety, knowledge and humor, but also criticism, thus stimulating reflection in subtle interventions.

 

The Figure of the Other

Questions of subject constitutions and concepts of identity are often connected with abstract figuration in contemporary art. Numerous authors of scientific postcolonial theories as well as artists and writers try to find new concepts of identity, subjectivity, representation and alterity for the complex, historically grown contexts. Following the Indian scientist Gayatri Spivak, this project does not simply want to „give a voice“ to marginalized persons, but rather to take a differentiated look at the construction of the seemingly own in relation to the delimited other – on an aesthetic level with all its freedoms and perhaps also its impudence.

 

The postcard as a medium is in itself historically occupied by themes of self- and external representation – even if often unintentionally and unreflected. As the title of this unconventional exhibition project PostColonialPostFreakPostCardShow humorously suggests, postcards often unite logics of looking at the foreign as exoticism of the seemingly extraordinary. The foreign can, but need not be geographically distant, as the figure of the so-called „freak“ makes clear. Rather, it is inner demarcations that form psychological processes of subject formation and identity stabilization based on parameters and assignments of the seemingly „foreign“ and the assumed „own“.

 

Send me a Postcard!

After the very first small card made of brown cardboard was sent out in Austria in 1869, Otto von Bismarck signed a decree 150 years ago to rationalize communication. This decree introduced the so-called „correspondence card“ as a cheaper and shorter form of communication, but this met with great reservations for the time being due to the secrecy of the letter. However, the early correspondence cards did not yet have a picture, but could be written on one side with personal messages, while the other side was reserved for addressing and the postage stamp. At the end of the 19th century, the range and presentation of correspondence cards expanded due to advances in printing technology, so that postcards with photographs, prints and/or colored writing soon appeared. Since the use of pictures, the space for personal messages moved to the left half of the back, while the right half remained reserved for the recipient’s address – as we still know it today. Regular fashions of particularly popular subjects can be identified over time by means of picture postcards – making them readable as cultural and historical documents. While the range of the picture motifs also defined what seemingly was worth seeing.

 

Postcards were and still are illustrated forms of greeting as a sign from afar or of pride in nearby cultural assets and landscapes. They signal a connection even across distances. For centuries, picture postcards have been giving insight into foreign countries, buildings, cultural sites and societies, spreading knowledge, stereotypes, curiosities and the extraordinary. They make travel experiences visible and follow their own laws of representation, which are also subject to fashions and ways of thinking. Thus postcards are always to be seen in connection with the politics of visibility and regimes of gaze that correspond to the society of the time – or at least pretends to do so and thereby perpetuates prejudices.

 

In times of countless digital short messenger services, the printed and mailed postcard seems almost anachronistic nowadays. But even the handwritten picture postcard is still relevant – in times of pandemic-related physical distance more than ever, it seems. And last but not least, the postcard still makes foreign places of longing appear – nowadays in a new perspective, as for example the motifs of Scarlett Graaf Hooftland impressively demonstrate.

 

Images of Self and Others

The artistic motifs of the postcards selected here appear in different places, such as in Hanover with its well-known inner-city Maschsee lake as a local recreation area, which was created as a job-creation measure and ultimately also drowned the Bismarck Column, where book-burnings and paramilitary marches took place at the beginning of the last century in a time marked by National Socialism. In places like this, among others, the history of the postcard view as a visual instrument of visibility can be consciously continued on an anti-colonial, feminist and critical level, thereby also strengthening the reflected perception of the visual codes that permanently surround us. It is no coincidence that Musquiqui Chihying and Gregor Kasper refer here with their postcards to a completely different place with a colonial history. Their views show the Misahöhe, a former German colonial station in Togo, where the two artists are pursuing a long-term film project that aesthetically reappraises the memory and knowledge of the colonial period.

 

Just as common as postcards of illustrious places were autograph cards of famous personalities, as well as views of attractions, >freaks< and so-called >abnormalities<. The image of humanity hidden underneath is exhibiting and pejorative in hierarchically functioning power relations, the logic of which is artistically undermined here in various ways – especially in the form of an exhibition, which in turn is „exhibiting“ in itself. In the past, the foreign was often presented as a curiosity and its strangeness was usually emphasized. Especially picture cards of so-called >Völkerschauen< show this impressively, which rather reflected the fantasy of the photographer and client than depicted (life) realities. The artworks in the project PostColonialPostFreakPostCardShow counter this chapter of our history with their own logic and visual languages. The exhibition project feeds artistic postcards into society in the midst of Hanover and Koblenz, in order to irritate as well as to stimulate reflection in the midst of everyday (historical) consumption. Last but not least, the tourism industry took up and continues to take up many colonial argumentations and modes of representation. It partially re-actualizes stereotypes until today. Questions of the search for and formation of identity are therefore still or even just again increasingly relevant in today’s times of superficial interculturality with hidden class structures or even racism – as became clear again in the course of the Black Lives Matter movement. Established patterns of thought should always be questioned – particularly in everyday situations. Portrait and Identity Questions of re-presentation, which already play a traditional role in the field of visual art and especially in discourses of photography, are coming into focus in relation to postcolonial negotiations. The ideals of coherent self-relationships and group-specific identity structures have come under fundamental criticism in leading theories of poststructuralism and psychoanalysis. Since the 1960s, findings that identities and subject perceptions are always constructed have become increasingly accepted and sensitized to aspects of the postcolonial. The Indian co-founder of postcolonial theories Gayatri Chakravorty Spivak (*1942 in Calcutta) examines the self-interpretation of non-Western subject constitutions in her concept of the practices of subalterns. Thus Spivak emphasizes the heterogeneity and overlapping of varying differences, for example of >race<, >class< and >gender<, each of which shapes individual formations of identities in their own proportions and must therefore always be considered in their full complexity. While discriminatory practices function through attributions, there are attempts to appropriate them in counter-acts and thus use them subversively. It is precisely in exaggerated or meaningless attributions that identity effects are carried to extremes, as Fabrice Monteiro’s works impressively demonstrate. Possible scopes of action and counter-narratives of the self-representation of minorized, subaltern individuals originating from postcolonial contexts are the focus of interest of the artists gathered here without wanting to reduce them to this. Instead, regimes of visibility are revealed in aesthetic spaces. The artistic strategies of these postcards are located precisely in this intermediate area. Hybridity The Indian theorist Homi K. Bhabha (*1949 in Mumbai) ascribes a special power to potential strategies of hybridity and mimicry by virtue of a „[…] process of iterative >separation< and rebellious recomposition of incommensurable elements“ that strengthens individual authorities. Through a form of non-conformity and rejection of narrative attributions, a moment of unpredictability arises. Yet the foreign is and has never been linked solely with fear or only with a function of stabilizing one’s own, but also with fascination. Perceptions of threat or demarcation are always inseparably linked with aspects of the fascination of the >exotic<. The representation of the Other is therefore always also polysemic and affectively charged. Thus Bhabha, in recourse to Derrida, observed tilting figures in which psychological, negative residual phenomena change into the positive. The >Other< evermore is contradictorily occupied. This contradiction and ambiguity has always characterized expressive art.

 

The formation of identity is a socially mediated process. In this process, the ongoing consequences of representation, stereotyping of the seemingly other as foreign in order to stabilize what is seemingly one’s own, even beyond power-political colonial situations, come into view. At the same time, in our globalized world we are experiencing an increasing mixing of cultural practices on all levels. For this reason, Homi K. Bhabha proclaims an international culture in his concept of the „Third Space“, which „is not based on the exoticism […] of the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of the hybridity of culture“ . According to Bhabha, hybridity gives rise to possibilities of subversion and capacity for action. The category of the hybrid directs the focus from the other to processes of a permanent mixing of different influences and concepts to something new, hybrid. Hybridity describes the combinatorial nature of cultural practices, which in turn always produce hybrid identities, as we all imagine them today in varying proportions. Thus, the artists gathered here offer very different visual image worlds, narratives and open ends for their own exploration and association, which are conceived in an enigmatic, critical and humorous way.

 

Last but not least, the postcards are meant to be sent out with a greeting and thus to create new connections in the whole world, to the near distance or foreign proximity. Especially in times of physical distance during the pandemic, artistic works on postcards can not only be signs of affection, but rather offer to broaden our horizons and reflect on postcolonial conditions and the way we live together and deal with each other.

 

This project could only be realized through the trusting support of the Kultursommer Rheinland-Pfalz and the Kulturbüro of the City of Hannover. In particular, I would like to thank Nike Poulakos and Anne Prenzler and their teams for their support. Without the willingness of the artists involved, the PostColonialPostFreakPostCardShow would not have been possible – many thanks to Ixmucané Aguilar, Enric Fort Ballester, Musquiqui Chihying, Gregor Kasper, Scarlett Hooft Graafland and Fabrice Monteiro for their cooperation! Thanks as well to Sebastian Moock for designing the printed material and the website.

Julia Katharina Thiemann

Impressum / Imprint

 

Diese Publikation erscheint anlässlich des kuratorischen Projektes PostColonialPostFreakPostCardShow im Jahr 2020 / This publication is published on the occasion of the curatorial project PostColonialPostFreakPostCardShow in 2020

 

mit / with Ixmucané Aguilar, Enric Fort Ballester, Musquiqui Chihying und Gregor Kasper, Scarlett Hooft Graafland, Fabrice Monteiro

 

Konzept, Kuration und Text / Concept, Curation and Text:
Julia Katharina Thiemann

Graphik / Graphics: Sebastian Moock

Schrift / Typo: Disput Regular von / by David Turner

 

© Ixmucané Aguilar, Enric Fort Ballester, Musquiqui Chihying und Gregor Kasper, Scarlett Hooft Graafland, Fabrice Monteiro and Courtesy Galerie Magnin-A, Paris.

© Text Julia Katharina Thiemann

 

Hergestellt durch dieUmweltDruckerei auf 100% Recyclingpapier mit Ökostrom und mit mineralölfreien, veganen Farben auf Pflanzenölbasis. Für die bei Herstellung und Versand entstandenen CO2-Emissionen wurde gezielt in Klimaschutzprojekte investiert. /

Produced by dieUmweltDruckerei on 100% recycled paper with green electricity and with mineral oil-free, vegan inks based on vegetable oil. Targeted investments were made in climate protection projects for the CO2 emissions generated during production and shipping.

 

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